„Was meint ihr eigentlich, wenn ihr von ‚dem Staat‘ redet?“
Posted by gruppewiderspruch on 6. Juli 2025
„Was meint ihr eigentlich, wenn ihr von ‚dem Staat‘ redet?“
Immer mal wieder stellen Besucher:innen unserer Veranstaltungen mit Verweis auf die staatliche Gewaltenteilung, Streitigkeiten innerhalb der Regierung oder die Konkurrenz verschiedener Parteien infrage, dass mensch von „dem Staat“ als einheitlichem Subjekt überhaupt sprechen kann. Der folgende Text soll sich damit auseinandersetzen.
Dieser Text hat seinen Ausgangspunkt in einem Workshopskript von den Gruppen gegen Kapital und Nation gehabt. Für diesen Text wurde das Skript gekürzt und es wurden auch inhaltliche Änderungen vorgenommen. Insofern stellt er einen Text der Gruppe Widerspruch dar.
(Nicht nur) in Texten und Referaten von uns ist häufig von „dem Staat“ die Rede: „Der Staat“ garantiert das Eigentum, „der Staat“ ist der ideelle Gesamtkapitalist, „der Staat“ fasst die Bevölkerung als Volk zusammen, „der Staat“ macht überhaupt ziemlich viel.1
Häufig gibt es dann folgende Situation: Leute hören eine Weile interessiert zu, dann kommt es ihnen komisch vor, dass immer wieder von „dem Staat“ die Rede ist und fragen irgendwann: „Was meint ihr eigentlich, wenn ihr von ‚dem Staat‘ redet?“
Bei manch anderen Begriffen begegnet uns die Rückfrage, was meint ihr eigentlich, wenn ihr von „dem XY“ redet, deutlich seltener. Wenn wir z.B. darüber reden, dass Unternehmen bemüht sind, die Löhne zu drücken oder die Arbeit zu verlängern, versteht uns eigentlich noch jede:r. Oder aber es gibt Opposition und es wird eingewendet: „Nein, es gibt auch Fälle, da erhöhen die Unternehmen die Löhne oder spendieren einen Urlaubstag mehr.“ Dann kann mensch sich zusammen darüber unterhalten, wie das zueinander steht. Aber es kommt fast nie die Frage: „Was meint ihr eigentlich, wenn ihr von ‚den Unternehmen’ redet?“
Bei der Rede von „den Unternehmen“ abstrahiert mensch: Nestlé, Rossmann, BMW sind alles Unternehmen, die sich unterscheiden. Wenn von „den Unternehmen“ geredet wird, dann ist damit das gemeint, was diesen verschiedenen Unternehmen gemeinsam ist. Nestlé mag in den letzten Jahrzehnten verschiedene Eigentümer:innen gehabt haben und unterschiedliche Manager:innen haben das Unternehmen geführt. Auch mag sich die Geschäftsstrategie von Nestlé verändert haben. Wenn von „dem Unternehmen“ geredet wird, dann wird also auch von diesen Unterschieden abstrahiert. Damit soll gesagt werden: Trotz der Änderungen gibt es bleibende Prinzipien (z.B. den Zweck, Profit zu erwirtschaften). Diese Prinzipien ändern sich auch dann nicht, wenn etwa das Führungspersonal wechselt oder die Produktpalette verändert wird.
Das stimmt auch, behaupten wir, wenn wir vom Staat reden – soweit wir über bürgerliche Staaten reden, also Staaten, in denen die kapitalistische Produktionsweise herrscht. Der deutsche Staat, der dänische Staat, der russische Staat, die USA, sind alles besondere Staaten, die sich unterscheiden. Wenn aber von „dem Staat“ oder „den Staaten“ die Rede ist, dann wird ein allgemeines Wesensmerkmal behauptet, das alle Staaten gemeinsam haben. Eine solche Abstraktion scheint bei der Rede von „den Unternehmen“ kein Problem zu sein. Bei „dem Staat“ oder „den Staaten“ aber schon.
Wenn also von „dem Staat“ geredet wird, dann sollen die gemeinsamen Prinzipien betont werden.
Für viele Leute ist es zwar überhaupt kein Problem von „dem Staat“ zu reden, wenn ein Kaiser oder Führer sagt, wo es lang geht. Bei Demokratien mit Gewaltenteilung, Streit innerhalb der Regierung und Parteienkonkurrenz dagegen ist für sie dann nicht mehr nachvollziehbar, dass auch dieser demokratische Staat eine Einheit sein soll. Der Text will sich mit diesen drei Sachverhalten, mit denen die Einheit des Staates infrage gestellt wird, im Folgenden auseinandersetzen.
Der demokratische Staat – eine Einheit oder nicht?
Wieso soll der demokratische Staat eine Einheit sein, wenn es…
a) eine Gewaltenteilung gibt?
b) selbst innerhalb einer Regierung Streit gibt?
c) Parteien gibt, die miteinander konkurrieren und gegensätzliche Programme haben?
a) Wieso soll der demokratische Staat eine Einheit sein, wenn es eine Gewaltenteilung gibt?
Im demokratischen Staat gibt es eine Gewaltenteilung. Verbreitet ist die Vorstellung, dass durch die Aufteilung in Regierung (Exekutive), Parlament (Legislative) und Gerichte (Judikative) die Willkürherrschaft einzelner Regent:innen oder Parteien verhindert wird. Dafür erhält die Gewaltenteilung ein großes Lob, auch viele Linke finden Gefallen daran. Im Folgenden wollen wir erklären , was Gewaltenteilung ist, warum sie kein Lob verdient und der demokratische Staat trotz Gewaltenteilung eine Einheit ist.
Das Parlament debattiert und beschließt die Gesetze. Häufig wählt es auch die Regierung, die der Verwaltung und den Gewaltapparaten vorsteht, so befehligt das Innenministerium die Polizei. Die Regierung schlägt Gesetze vor und sorgt für die Umsetzung der beschlossenen. Sie und ihr Apparat kümmern sich darum, dass sich die öffentliche Verwaltung bis zur letzten Beamt:in hinunter für die Geltung der Gesetze einsetzt. Die Anordnungen der Regierung und das Handeln der Unterorgane müssen sich dabei aus den Gesetzen ableiten, dürfen ihnen nicht widersprechen. Darüber wachen die Gerichte. Sie sind insofern von der Exekutive unterschieden, dass sie von ihr nicht einfach Befehle bekommen. Richter:innen sind unabhängig und sollen nur eins machen: Bei den Fällen, die vor Gericht kommen, prüfen, ob die Tat oder Taten, die Gegenstand der Verhandlung sind, mit dem staatlich gesetzten Recht vereinbar sind oder nicht.
Diese drei Gewalten sind in demokratischen Staaten personell und institutionell getrennt.
Jede Gewalt hat also ihre spezifischen Aufgaben und Kompetenzen. Dabei kommen sich die Gewalten auch regelmäßig in die Quere, wenn z.B. ein Verfassungsgericht ein vom Parlament beschlossenes Gesetz oder eine Regierungsverordnung aufhebt oder die Exekutive zurückpfeift, z.B. wenn die Polizei nach Einschätzung von Richter:innen „unverhältnismäßig“ auf Demonstrierende einprügelt hat. Es ist also nicht selten, dass die Vertreter:innen der Exekutive (z.B. Regierung und Polizei) Institutionen wie das sie kontrollierende Parlament oder das Verfassungsgericht als störend für ihr effektives Durchregieren oder Zuschlagen empfinden.
Was hier als Gegeneinander erscheint, ist aber ein produktives Mit- und Füreinander: Die verschiedenen Abteilungen des Staates haben zwar unterschiedliche Aufgaben, aber sie brauchen und bedingen einander und ergänzen sich.
Zum Beispiel: Ein Gerichtsurteil kann weitreichende Folgen für einzelne Menschen (Geldstrafe, Knast) oder für viele Menschen haben (wenn ein Gericht beschließt, dass eine Mietobergrenze nicht zulässig ist, hat das weitreichende Folgen für alle armen Mieter:innen). Ein Gericht hat also Macht. Diese Macht hat das Gericht aber nicht einfach aus sich selbst heraus oder aus der Judikative. Sondern es urteilt aufgrund von Gesetzen, die im Regelfall vom Parlament beschlossen wurden. (In denen steht dann auch, welche Gerichte was dürfen und was nicht). Und die schönsten Gerichtsurteile sind nur bedrucktes Papier, wenn sie nicht von der Exekutive umgesetzt und vollstreckt werden. Ohne Polizei könnte sich das Gericht die Strafe an den Hut stecken.
Die Macht jeder Abteilung beruht darauf, dass der ganze Staat hinter ihr steht. Das Wort Gewaltenteilung lädt daher zu einem Missverständnis ein: Die Aufteilung der Gewalt auf verschiedene Abteilungen bedeutet, dass sie unterschiedliche Aufgaben haben – aber nicht, dass sie gegensätzliche Zwecke verfolgen. Die Abteilungen sind immer noch Teile derselben Gewalt, nämlich der Staatsgewalt. Bei der Ausübung dieser Staatsgewalt sind sie durch Gesetz und Verfassung zwar beschränkt, wenn aber eine Abteilung etwas beschließt, was sie darf, dann steht eben auch nicht nur ein Teil des Staats dahinter, sondern die gesamte Staatsgewalt.
Voraussetzung für die Durchsetzungsfähigkeit der Staatsgewalt durch die einzelnen Abteilungen ist das Gewaltmonopol des Staates. Gewaltmonopol heißt: Beim Staat liegen die zentralen Machtmittel. Er setzt Gewalt ein und gleichzeitig definiert er, wer wo in welchem Rahmen sonst noch Gewalt ausüben darf. Gewaltenteilung bedeutet übrigens deswegen auch nicht, dass weniger Gewalt angewendet wird.
Die arbeitsteilige Gewaltaufteilung dient einem einheitlichen Zweck, den alle drei Gewalten des bürgerlichen Staates gemeinsam verfolgen: Die Herstellung und Betreuung einer kapitalistischen Konkurrenzgesellschaft. Und solch eine Gesellschaft benötigt eine Macht, die über ihr steht und die Konkurrent:innen gewaltvoll beschränkt. Während die Exekutive diese Gewalt selbst ausführt, legt die Legislative in Form von Gesetzen fest, was alles erlaubt und was verboten ist und daher ggf. gewaltvoll geahndet wird. Die Judikative überprüft dann im Wesentlichen, ob ein Verhalten gegen Gesetze verstoßen hat und daher Gewalt verdient.
Die Gewaltenteilung ist für die effektive Erfüllung dieser Aufgaben insbesondere aus zwei Gründen wiederum ziemlich nützlich:
Erstens, indem sie dafür sorgen soll, dass die staatliche Herrschaft auch wirklich nur den genannten Zweck verfolgt. Damit das gut funktioniert, sollen sich die verschiedenen Gewaltabteilungen gegenseitig auf diesen Zweck verpflichten – auch und gerade, indem sie sich wechselseitig beschränken. Denn die Betreuung einer kapitalistische Konkurrenzgesellschaft erfordert eine staatliche Gewalt, die die Konkurrenz organisiert und garantiert (und nicht etwa aufhebt).2
Zugleich soll die Gewaltenteilung verhindern, dass der Staat für persönliche Zwecke eingesetzt wird: Z.B. kann eine unabhängige Judikative auch Beamt:innen oder Politiker:innen vor Gericht stellen (wenn sie z.B. ihr Amt zur privaten Bereicherung nutzen) oder ihre Vorhaben und Aktionen für unrechtmäßig erklären. Die Gewaltenteilung soll zudem eine gewisse Rechtssicherheit schaffen. Diese Verlässlichkeit darauf, dass sich das staatliche Handeln geordnet und nach gewissen Prinzipien vollzieht, ist z.B. vorteilhaft , damit sich Unternehmen bei Investitionen und überhaupt beim Geschäfte machen darauf verlassen können, dass der Staat sich auch selbst an seine Gesetze halten wird und nicht etwa ohne rechtliche Grundlagen einfach Enteignungen vornimmt oder willkürlich einzelne Marktteilnehmer:innen bevorzugt.
Zweitens ist die Gewaltenteilung nützlich, indem die gegensätzlichen Anliegen des Staates bei der staatlichen Entscheidungsfindung gegeneinander abgewogen werden sollen. Denn die Betreuung einer kapitalistischen Konkurrenzgesellschaft enthält lauter sich widersprechende Anforderungen für den Staat – dazu im Text unten mehr. Die Gewaltenteilung soll jede staatliche Tätigkeit auf Prinzipien in Form von Gesetzen rückbinden. So soll verhindert werden, dass in der Verfolgung eines besonderen Staatsinteresses andere besondere Staatsinteressen völlig untergehen. So liegt es in dem Auftrag, den die Polizei hat, begründet, dass ihr die vom demokratischen Staat gewollte Privatsphäre immer wieder im Weg steht. Hier geraten also zwei Anliegen, die der demokratische Staat hat (Durchsetzung des Gewaltmonopols vs. Schutz der Privatsphäre der Bürger:innen) aneinander. Gesetze und Gewaltenteilung sollen hier also nicht einfach eine persönliche Bereicherung der Polizist:innen verhindern, sondern die gewollten Aktionen der Polizei an andere Gesichtspunkte, die auch gewollt werden, rückkoppeln.
Gewaltenteilung ist damit funktional für den bürgerlichen Staat – den demokratischen bürgerlichen Staat macht also gerade aus, dass er seinen maßgeblichen politischen Zweck dadurch verwirklicht, dass seine drei Gewalten institutionell und personell getrennt sind.3 Der Staat bildet also eine Einheit, auch wenn es manchmal nicht so aussieht, weil sich innerhalb der Teilgewalten Konflikte entzünden. Da lässt sich die Frage stellen:
b) Wieso redet mensch von einer Einheit, wenn sich selbst innerhalb einer Regierung Streit entwickelt?
Eine bekannte Szene, die sich so oder so ähnlich öfter abspielt: Die Umweltministerin plant neue Auflagen für die Unternehmen, z.B. Filter wegen der Abgase. Die Wirtschaftsministerin interveniert, weil diese Auflagen den Unternehmen viele Kosten bringen würden und so das Wirtschaftswachstum mindern. In solchen Debatten ist ein Gegensatz auf dem Tisch. Auffällig ist aber, dass beide Positionen immer erwähnen, dass sie nur das Beste für die Nation im Blick haben. Die Wirtschaftsministerin sagt, die Wirtschaft als Voraussetzung für Steuereinnahmen und Arbeitsplätze gedeiht dann am besten, wenn die Kosten für die Gewinnproduktion möglichst gering sind. Die Umweltministerin erinnert daran, dass die starken Abgase viele Menschen in Deutschland krank machen würden, was einerseits hohe Kosten für die Krankenkassen bedeuten würde und andererseits auch dazu führen könnte, dass Arbeitskräfte ausfallen. Beide Ministerien haben also trotz gegensätzlicher Vorstellungen, was im konkreten zu tun sei, ein gemeinsames Projekt: nationalen Erfolg. Also eine funktionierende bürgerliche Gesellschaft, eine wachsende kapitalistische Wirtschaft und einen machtvollen Staat, der beide betreut.
Der Streit und der Gegensatz der Ministerien ist weder einem Zufall noch einer Laune der Politiker:innen geschuldet, sondern liegt in dem gemeinsamen Projekt begründet: Eine wachsende kapitalistische Wirtschaft beruht auf erfolgreicher Geldverehrung.4 Diese Art des Wirtschaftens untergräbt aber ihre eigenen Grundlagen, wenn sie nicht daran gehindert wird.
Ein paar Beispiele: Für einen hohen Gewinn ist es förderlich, Arbeiter:innen möglichst intensiv und lange arbeiten zu lassen. Das zerstört auf Dauer ihre Gesundheit. Den Unternehmen ist es egal, ob der Lohn, den sie zahlen, ausreicht, um eine Familie zu ernähren und Kinder ordentlich aufzuziehen. Das gefährdet den Fortbestand der gesamten Gesellschaft. Auch die kostensparende Entsorgung von Abwässern in den nächsten Fluss hat diesen Effekt. Wenn der Staat den dauerhaften Fortbestand seiner Gesellschaft sichern will, muss er die Unternehmen hier beschränken. Das geht auf Kosten der Gewinne.
Gleichzeitig ist es für den Staat aber wichtig, dass die Unternehmen ordentliche Gewinne machen, weil von denen in einer kapitalistischen Gesellschaft alles abhängt: Ob und was produziert wird, ob Leute Arbeitsplätze bekommen, ob sich der Staat durch Steuern oder durch Schulden ,finanzieren kann – all das hängt von einem insgesamt erfolgreichen Kapitalstandort ab. Ein Staat, der eine kapitalistische Ökonomie als Grundlage nutzen will, muss daher die Notwendigkeiten berücksichtigen, die dort herrschen.
Politiker:innen, die eine kapitalistische Konkurrenzgesellschaft fördern wollen, haben also folgende widersprüchliche Aufgabe: Wer die Gesellschaft inklusive ihrer Wirtschaft dauerhaft erhalten will, muss die Unternehmen beschränken. Wer die Wirtschaft fördern will, darf die Unternehmen nicht zu sehr beschränken. Einfach lösen lässt sich der Widerspruch, der im Projekt Kapitalismus liegt, nie. Wer sich nur auf eine Seite schlägt, der zerstört auf Dauer die Gesellschaft, die er fördern will. Die Politik muss ständig Güterabwägungen machen. In unserem Beispiel: Menschen und Natur müssen zwar durch die Unternehmen dauerhaft beschädigt werden können, aber eben nur bis zu dem Grad, dass die bürgerliche Gesellschaft weiter funktionieren kann.
In der Regierungsarbeit wird dieser Widerspruch häufig auf zwei Ministerien verteilt. Das Wirtschaftsministerium hat den Auftrag: Konzentriert euch auf die Frage, was die Unternehmen belastet. Das Umweltministerium hat hingegen den Auftrag: Konzentriert euch auf die Frage, wo die Natur zu sehr belastet wird. So kommen dann die Streits zwischen den Ministerien zustande, die dann aber auch nicht zu hart ausfallen sollen. Schließlich weiß auch die Umweltministerin, dass nicht die Natur der oberste Zweck ist, sondern der nationale Erfolg. Und die Wirtschaftsministerin weiß, dass es Einschränkungen geben muss, da sonst z.B. durch die Verschmutzung von Gewässern oder Böden deren langfristige wirtschaftliche Nutzung gefährdet wird oder durch Gesundheitsschäden hohe Folgekosten für den Staat entstehen können.
Solche Widersprüche5 ergeben sich nicht aus zwei Projekten sondern aus einem. Weil das Projekt der Betreuung einer bürgerlichen Gesellschaft in sich widersprüchlich ist, ist es sinnvoll die politische Herrschaft in verschiedene Ministerien aufzuteilen, die dann die zu betreuenden Widersprüche miteinander austragen. So kann sie das eine Projekt besser betreiben. Darüber, dass dieses Projekt (weiter) verfolgt werden soll besteht auch bei den verschiedenen Parteien, die sich auf die politische Herrschaft bewerben, eine grundsätzliche Einigkeit. Die Differenzen anhand derer sie ihre Konkurrenz in z.T. heftigen Streits austragen, liegen also nicht darin ob, sondern wie diese Wirtschaft, diese Gesellschaft und dieser Staat am erfolgreichsten zu erhalten und voranzubringen sind.
c) Wieso redet mensch von einer Einheit, wenn die Parteien miteinander konkurrieren und gegensätzliche Programme haben?
In demokratischen Staaten ist es verfassungsmäßig garantiert und damit erlaubt, Parteien zu gründen. Diese Parteien treten in Wahlen gegeneinander an, um an die vorgesehenen Posten zu kommen . Von den Wahlen hängt ab, ob und welche Partei in einer Regierung mitwirken und Ministerien besetzen kann, wie viel Redezeit die Abgeordneten im Parlament bekommen, wie viele Mitglieder die Parteien in einen Ausschuss schicken können oder ob sie als Teil der Opposition Verfassungsänderungen verhindern können.
So verschieden die Inhalte der Parteien sind, so einig sind sich darin, dass es „der Wirtschaft“ gutgehen, die innere und äußere Sicherheit gewährleistet sein und Umwelt und Soziales auch ihren Platz haben müssen. Wer die „komplexen Sachzwänge“ der Politik nicht anerkennt, sieht sich als Partei ganz schnell im Abseits. Manchmal werden bestimmte Parteien gar nicht erst zugelassen oder werden sogar verboten (z.B. in Deutschland, wenn sie „aktiv kämpferisch, aggressiv“ gegen die „freiheitlich-demokratische Grundordnung“ vorgehen). Damit ist ein Rahmen gesetzt, in dem sich Parteien mit ihren politischen Programmen überhaupt nur bewegen sollen. Wechselseitig versuchen die Parteien sich Wähler:innen abspenstig zu machen, kritisieren sich gegenseitig, werfen sich wechselseitig vor, keine vernünftige Politik zu machen, schließen auch manchmal aus, dass sie mit einer anderen Partei überhaupt zusammenarbeiten könnten usw.
Die unterschiedlichen Programme der Parteien sind aber Betonungsunterschiede desselben Projektes: Förderung und Erhalt der bürgerlichen Gesellschaft. Diese gilt es staatlicherseits zu organisieren und zu fördern. Wir haben bereits festgestellt: Diese Momente sind oder erscheinen widersprüchlich, weil der politische Zweck kapitalistische Konkurrenzgesellschaft betreuen, ziemlich widersprüchlich ist.
Ein erfolgreicher kapitalistischer Staat macht deswegen Güterabwägungen: was ist momentan wichtiger als was, worauf kann (zeitweise) verzichtet werden, wer muss den Gürtel enger schnallen. usw. usf.
Diese und andere Gesichtspunkte tauchen alle in den Parteiprogrammen auf. Alle setzen dann Schwerpunkte bzw. Prioritäten, weil sie diese für das Gesamtprojekt wichtiger halten, als das ihre Mitbewerber tun. Wie das genau in der Parteienlandschaft auftaucht verändert sich . In vielen Ländern ist es so, dass selten eine Partei allein regieren kann. Zudem gibt es in fast jeder großen Partei auch Flügel , die unterschiedliche Seiten dieser Güterabwägungen vertreten. Dadurch ergibt sich, dass in der Verfolgung eines besonderen Staatsinteresses andere besondere Staatsinteressen nicht völlig untergehen. Durch Koalitionsverhandlungen und interne Demokratie der Parteien werden die verschiedenen Gesichtspunkte, die alle für das eine Ziel (die bürgerliche Gesellschaft erfolgreich zu betreuen), wichtig sind, in den staatlichen Abwägungsprozess eingebracht.
Dass es in der Parteienkonkurrenz um einen Zweck geht, kann mensch letztlich daran erkennen, dass sie alle noch ihr Programm begründen mit: „Nur mit uns kommt die Nation wirklich nach vorne“. Und nach vorne kommt die Nation in erster Linie durch Wirtschaftswachstum, also einen erfolgreichen Kapitalismus.
Fazit zur Frage „Was meint ihr eigentlich, wenn ihr von ‚dem Staat‘ redet?“
Damit meinen wir den bürgerlichen Staat, der den Kapitalismus als Reichtumsmaschine verwendet und dafür kapitalistische Produktionsverhältnisse einrichtet, organisiert und fördert.
Deutschland ist ein bürgerlicher Staat, ebenso wie Dänemark, Griechenland oder die USA bürgerliche Staaten sind. Aus der Betreuung des Kapitalismus ergeben sich für den Staat bestimmte Notwendigkeiten, die berücksichtigt werden müssen, egal wer gerade in der Regierung sitzt. Wie das in demokratischen Staaten passiert, haben wir dargelegt. Aber es stimmt übrigens auch für Staaten, die nicht demokratisch organisiert sind, wie z.B. Russland, China oder die Türkei.
In demokratischen Staaten sind die Gewaltenteilung, die Arbeitsteilung und die Auseinandersetzungen innerhalb der Regierung, sowie die Parteienkonkurrenz nützlich, um sinnvolle Güterabwägungen für den nationalen Erfolg zu machen. Sie sind also kein Argument gegen die Einheit des Staats. Sondern Ausweis für die besondere Leistung demokratisch verfasster Staaten für den Kapitalismus: aus dem Gegeneinander verschiedener Einzelinteressen ein produktives Miteinander für Staat und Kapital zu machen. Warum das nichts Gutes ist, erklären wir an anderer Stelle.
1Wer wissen will, warum wir so viel über den Staat reden, den verweisen wir auf den (noch erscheinenden) Text: „Warum redet ihr immer soviel über ‚den Staat’“?
2Gerade weil der Staat als Gewaltmonopol grundsätzlich auch eine andere Ordnung einrichten könnte, geben sich Staaten eine Verfassung, um einerseits bestimmte Grundlagen der Staatsorganisation und andererseits die grundlegenden Staatszwecke langfristig festzuschreiben. Die Veränderung dieser Grundausrichtung des Staates durch wechselndes Staatspersonal soll so erschwert oder sogar ganz verhindert werden.
3Das funktioniert aber nur so lange, wie nicht eine Bewegung oder sonstige Gruppe alle drei Gewalten gleichzeitig übernimmt. In diesem Fall schützt die Gewaltenteilung nur insofern vor „Willkürherrschaft“, wie die Bewegung oder Gruppe das gut findet.
4Warum das so ist und wie das genau funktioniert, ist unter anderem im Buch „Die Misere hat System“ gut erklärt. https://gegen-kapital-und-nation.org/page/die-misere-hat-system-kapitalismus/
5Weitere Widersprüche sind z.B. zwischen Ministerium für Arbeit und Soziales versus Wirtschaftsministerium (Arbeiter:inneninteressen fördern, damit sie für den Kapitalismus arbeiten können versus Unternehmen entlasten, indem die Löhne gesenkt werden) oder Finanzministerium versus alle anderen Ministerien (Den Bürger:innen Geld wegnehmen mindert das Wirtschaftswachstum versus ohne staatliche Leistungen, für die es Steuern braucht, kommt aber auch kein Wirtschaftswachstum zustande). Auch hier werden die Widersprüche des einen Projekts bürgerliche Gesellschaft verwalten auf die verschiedenen Ministerien verteilt.
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