Seitenhiebe: Kanzlerkandidat Merz

Posted by gruppewiderspruch on 31. Dezember 2024

24.09.2024: Friedrich Merz, Vorsitzender und Kanzlerkandidat der CDU, sieht Deutschland vor die Wand gefahren und richtet sich in Print-Ausgaben der „Süddeutschen Zeitung“, der „Welt“ und der „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ mit einem Brandbrief an das deutsche Volk.
Wir konnten uns einen kleinen Kommentar nicht verkneifen…

Liebe Mitbürgerinnen, liebe Mitbürger,

Liebes Staatsmaterial, das ich gerne regieren möchte: ich kumpele mich als euer „Mitbürger“ an, weil sich das immer gut macht.

die Führungsgremien von CDU und CSU haben mich gebeten, für die Union als Kanzlerkandidat in die nächste Bundestagswahl zu gehen.

Ich habe dafür gesorgt, dass alle meine Konkurrenten um die Kanzlerkandidatur kuschen. Nicht zuletzt weil sie sich davon etwas versprechen: Dass wir die Wahl gewinnen und sich ihre Fügsamkeit noch politisch auszahlt. Oder, dass wir die Wahl verlieren und sie ihre Karriere anschließend auf meine Kosten vorantreiben können.

Ich komme dieser Bitte dankbar und mit großem Respekt nach. Dankbar, weil mir diese Aufgabe die Chance eröffnet, unserem Land etwas zurückzugeben. Mit großem Respekt, weil mir die Größe der Aufgabe sehr wohl bewusst ist.

Ich will von euch ermächtigt werden, mein Programm mit und gegen euch durchzuziehen. Darum stelle ich mich euch zur Wahl. Für all das, was ich mit euch anstellen will, muss ich euch aber mindestens ideell ins Boot holen. Daher zeige ich besser Demut und betone, dass das auch viele Opfer von mir verlangt. Mit „unser Land“ seid ihr alle schon mal als ein Teil vom „wir“ in Beschlag genommen und auf den Erfolg Deutschlands verpflichtet.

Die Frage nach meiner Motivation ist schnell beantwortet. Wir wollen Deutschland wieder nach vorne bringen!1

Deutschland soll in der imperialistischen Konkurrenz der Nationen um den Reichtum der Welt besser abschneiden als bisher.
Das politische Programm, mit dem ich das erreichen will, enthält ganz schön viele Härten für viele Leute – die spreche ich aber nur zwischen den Zeilen und mit schöner klingenden Begriffen an. Ihr werdet schon noch merken, was ich meine, wenn ich weiter unten von „mutiger Politik“ rede.
Da ich mich aber darauf verlassen kann, dass die meisten von euch meinen Nationalismus, Deutschland als Mittel zum eigenen Erfolg zu betrachten, teilen, stelle ich mich hier vor allem als hundertprozentiger Patriot vor. Damit mache ich schon mal klar: Wer was anderes will als meine Partei und ich ist eben kein guter Patriot und bringt „unser Land“ nicht voran.

Deutschland ist ein großartiges und lebenswertes Land. Deutschland ist auch immer noch ein starkes Land.

Jetzt muss ich einen Balanceakt wagen: Um mich als notwendige Führungsalternative ins Gespräch zu bringen, muss ich schon sagen, was alles nicht gut läuft. Aber Patriot*innen mögen es nicht, wenn man an ihrem Land zu sehr herumkritisiert. Darum lobe ich jetzt erst mal das Land, damit sich alle geschmeichelt fühlen. Und schiebe die Kritik nach, die dann alle nur auf die aktuelle Regierung beziehen sollen. Meine Botschaft: Eigentlich könnte das Land ziemlich erfolgreich sein. Wenn die bisherige Führung es nicht vergeigt hätte.

Aber uns alle beschleicht zunehmend das ungute Gefühl, dass die Fundamente, auf denen wir stehen, zu bröckeln beginnen. Unsere Wirtschaft lahmt, die öffentliche Infrastruktur ist in vielen Teilen nicht mehr zeitgemäß, es gibt immer größere Ungerechtigkeiten im Sozialsystem, die innere und äußere Sicherheit ist bedroht.

Da bin ich – Friedrich Merz, langjähriger Politiker, ehemaliger Blackrock-Manager und Millionär – ganz einer von euch: „Uns“ „beschleicht“ ein „Gefühl“. Und da müssen wir ja gar nicht untersuchen, was daran stimmt und was nicht.
Die Probleme formuliere ich
aber bewusst so undeutlich, dass jede Person sich was dabei denken kann, und das allgemeine Gefühl „Läuft gerade nicht so gut“ bestätigt wird. Missversteht das aber bitte nicht als Garantie, dass die Sachen, die euch wirklich das Leben schwer machen, geändert werden, schließlich bin ich laut Grundgesetz ja nur meinem Gewissen verpflichtet.
Auf explizite Hetze gegen das Bürgergeld oder
Flüchtlinge verzichte ich hier mal besser, das macht der Linnemann an anderer Stelle für mich.

Autoritäre Regime gewinnen weltweit an Einfluss.

Ich will zwar an die Regierung und ganz viel „Führung“ zeigen – aber „autoritär“ ist demokratische Herrschaft nie und nimmer, verstanden? Ich will auch ganz viele Abkommen mit nicht-demokratischen Regimen, damit sie ihre Untertanen und andere Flüchtlinge an der Weiterflucht nach Europa hindern. Aber die meine ich hier auch nicht. Was ich sagen will: Demokratische, dem Weltmarkt offene Regime sind viel nützlicher für Deutschland und seine Wirtschaft. Deswegen wollen wir zusammen mit unseren verbündeten Konkurrenten als „ Westen“ festlegen, wie die weltweite Ordnung aussieht und wem sie wie nützt. Russland und China gehören isoliert und klein gehalten. Hoffentlich macht mir der Trump da keinen Strich durch die Rechnung.

Das Vertrauen in unsere Demokratie sinkt. Damit ist im Kern unser Leben in Freiheit bedroht.

Ich will den demokratisch organisierten Kapitalismus als Erfolgsmittel meiner Nation. Ich will, dass sich hier alle in aller Freiheit krumm legen für den nationalen Erfolg. Und ich will, dass alle dazu laut und deutlich „ja“ sagen. Dieses Programm stelle ich jetzt als unsere gemeinsame Sorge vor, die ihr mal teilen sollt. Ich finde es doof, wenn unsere rassistische Hetzkampagne gegen Flüchtlinge vor allem auf das AfD-Konto einzahlt. Wenn dabei bisherige SPD/Grüne/FDP-Wähler*innen mich wählen, weil sie die Demokratie vor den Rechten schützen wollen, nehme ich das gerne mit.

Dagegen möchte ich, dagegen möchten wir etwas tun. Wir wollen mit guter und mutiger Politik dafür sorgen, dass das Vertrauen wieder wächst. Wir wollen für eine begründete Zuversicht arbeiten und stellen uns den Populisten und Extremisten entgegen, die unser Land schlecht reden. Sie haben für die komplexen Fragen unserer Zeit keine Antworten.

Dass so viele Rassist*innen und Nationalist*innen ihr Kreuz bei AfD und BSW machen, ist ein echtes Problem: deren Rezepte für deutschen Imperialismus an der Seite Russlands halte ich für völlig untauglich.
Der bisherige Erfolgsweg Deutschlands – weltweiter Exporteur mit militärischer Rückendeckung der USA und billiger Energie
aus Russland – ist leider ziemlich in der Krise. Deswegen müssen wir dem deutschen Kapital bessere Bedingungen verschaffen. Das sagen wir aber nicht so und auch nicht so laut. Wir sind ja nicht die FDP.
Letztlich werden wir in vielen Punkten (z. B in Sachen prinzipieller staatlicher Trennung der Menschen in In- und Ausländer*innen plus den dazugehörenden Abschiebungen, im Voranbringen der heimischen Wirtschaft samt den niedrigen Löhnen, inklusive langen Arbeitszeiten, und und und ) die gleiche Politik wie die Ampel machen, aber ohne den ganzen links klingenden Klimbim. Falls das klappt, werden alle wieder optimistisch.
Unsere Konkurrenten in Sachen nationalistischer Kritik am mangelnden Erfolg Deutschlands kanzeln wir
einfach als unpatriotisch ab, indem wir ihnen vorwerfen, „unser Land schlechtzureden“ – obwohl sie im Wesentlichen das gleiche sagen wie wir.

Liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger,

Zwischendurch braucht es als Wachmacher eine appellative Zwischenüberschrift!

es geht bei der nächsten Wahl um nicht weniger als um die wirtschaftliche und soziale Zukunft Deutschlands. Es geht um den Zusammenhalt unserer Gesellschaft. Diesen Zusammenhalt wieder herzustellen und die Zukunft für unser Land zu gewinnen, dafür trete ich an.

Es geht bei der nächsten Wahl darum, Deutschland auf seinem kapitalistischen Erfolgskurs zu halten. Dafür braucht es Zustimmung zum Staat wie er ist und höchstens konstruktive Opposition. Alle, egal ob sie persönlich gewinnen oder verlieren, sollen sich als eine große Gemeinschaft empfinden und nicht so viel rummeckern.

Denn ich glaube zutiefst an Deutschlands Potentiale und an die Kraft, die in uns steckt. Wir haben so viele kluge, engagierte und kreative Frauen und Männer, so viele innovative und weltmarktführende Unternehmen. Das sind immer noch beste Voraussetzungen für eine gute Zukunft unseres Landes. Davon bin ich fest überzeugt. Nicht zuletzt: Wir sind es unseren Kindern und Enkelkindern einfach schuldig.

Was ihr alles für den Staat leisten könnt, das spricht stark für euch. Und weil ihr, also Deutschland, das alles kann, hat es auch ein Recht auf Erfolg.
Für die „gute Zukunft“ werdet ihr Normalbürger hart rangenommen werden, damit ihr euch schön engagiert, kreativ und innovativ für Deutschlands Größe schuftet. Wenn euch das nicht gut bekommt, könnt ihr euch mit dem Gedanken trösten, dass ihr es nicht nur für die Gemeinschaft, sondern auch für eure Nachkommen tut.
(Ne, ihr blöden Grünen: „Wir haben Deutschland bloß von unseren Kindern geborgt“, habe ich euch als Wahlparole damit schon mal weggeschnappt).

Wir haben in der Vergangenheit immer wieder bewiesen, wie aus einer starken Gemeinschaft eine große Kraft entstehen kann. Wir können ein starkes Land sein, wenn wir die Tugenden wieder wertschätzen, die Grundlage für unseren heutigen Wohlstand waren: Leistungsbereitschaft, Fleiß, Anstand, Gerechtigkeit und Gemeinwohlorientierung.

Wann diese Vergangenheit genau gewesen sein soll, ist egal. Hauptsache alle bilden sich ein, dass es an „uns“ und „unseren Tugenden“ gelegen hat und weiterhin liegt.
„Tugenden“ klingt außerdem viel schöner als „Härten“, „Leistungsbereitschaft“ oder „Gerechtigkeit“ viel besser als „Arbeite gefälligst auch für den letzten Scheiß-Lohn, selbst wenn der nicht zum Leben reicht, am besten natürlich so lang wie möglich!“ oder „Dein Bürgergeld muss deutlich niedriger als ein Niedriglohn sein“. Und „Anstand“ viel wohliger als „Wen jucken deine persönlichen Interessen, hier geht‘s um Deutschland.“

Eine starke Wirtschaft mit zukunftsweisenden Ideen entsteht dort, wo Menschen in Freiheit leben. Der Staat muss den richtigen Rahmen setzen und seine eigentlichen Aufgaben erfüllen. Dazu gehören eine effiziente und schlanke Verwaltung, innere und äußere Sicherheit, kontrollierte und geregelte Migration, eine funktionierende Infrastruktur in Stadt und Land, ein faires Steuersystem, gerechte Sozialsysteme und eine wirkungsvolle Klimapolitik.

Der Staat soll den deutschen Unternehmen gute Rahmenbedingungen liefern, dann läuft das schon. Dafür machen wir ihn schlank, wo die Leute sich in aller gesetzlich garantierten Freiheit gefälligst selber um ihr mühsames Zurechtkommen kümmern sollen, und stark, wo der deutsche Staat sein Gewaltmonopol nach innen (Extremismus, Kriminalität, …) und seine Interessen nach außen vertreten soll.

Jeder Mensch kann einen Beitrag dazu leisten, dass wir wieder besser werden. Und wer seinen Beitrag leistet, der steht in unserer Mitte, verdient Anerkennung und Respekt. Egal woher er kommt, woran er glaubt oder wen er liebt.

Wir von der CDU/CSU halten nichts von fundamentalistischem Rassismus oder Sexismus. Gegen nützliche Migrant*innen, Muslime und Queers haben wir eigentlich nichts, solange sie das Maul halten, keine Ansprüche stellen und nicht weiter auffallen. Das hindert uns natürlich nicht daran, hin und wieder ein paar schöne Hetzkampagnen mitzumachen oder zu initiieren, zum Beispiel wenn sich damit Wahlen gewinnen lassen. Aber davon lassen wir uns unseren schwarz-rot-goldenen Blick auf die nationale Nützlichkeit und Zuverlässigkeit nicht trüben.

Auf dem Weg zur nächsten Bundestagswahl werden wir Unionsparteien daher unsere konkreten Lösungsvorschläge zur Diskussion stellen, mit denen wir einen Politikwechsel vollziehen wollen. Als Kanzlerkandidat der Union werde ich nichts versprechen, was ich nicht halten kann. Nur so können wir das Vertrauen in unsere Demokratie wieder stärken.

Macht euch auf was gefasst! Wir haben vor, ziemlich viel von dem, was wir ankündigen, auch wirklich zu machen. Die Härten unseres Programms möchte ich gern als „Ehrlichkeit“ verkaufen, damit ihr euch mit dem Gedanken zufrieden gebt, dass wir eine echte Alternative sind.

In den kommenden Monaten werde ich durch das Land reisen und viele Menschen treffen. Ich werde zuhören, auch dort, wo es unbequem ist und wir als Union in der Vergangenheit Fehler gemacht haben. Denn die Menschen in unserem Land haben einen Anspruch darauf, dass ihre Sorgen, ihre Nöte, ihre Wünsche und ihre Ideen gehört werden.

Damit ihr wisst, dass ich einer von euch bin, werde ich wie alle Politiker*innen rumfahren, Leute für mein Programm agitieren und mal kucken, welche Sprüche beim Publikum besser verfangen als andere. Das sollt ihr schon so wahrnehmen, dass ich mich echt um euch kümmere. Auch wenn aus euren Sorgen und Wünschen überhaupt nichts folgen muss. Nur falls ich dabei auf neue Ideen komme, die mir taugen, werde ich das in meine Kampagne integrieren.
Mit dem offenen Eingeständnis, dass Merkel Fehler gemacht hat, habe ich übrigens kein Problem. Das kann mir nutzen: Wer mit Merkels Politik unzufrieden war, braucht wirklich nicht AfD wählen.

Liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger,

Leute, ich komme zum Schluss:

ich bin verwurzelt in meiner Heimat dem Sauerland, ich liebe Deutschland und bin zugleich überzeugter Europäer. Deshalb werde ich meine ganze Kraft dafür einsetzen, unser Land in eine gute Zukunft zu führen. Dafür brauchen wir ein starkes Europa, in dem Deutschland ein verlässlicher Partner ist. Europa und die Welt sollen wieder mit Bewunderung und nicht mit Verwunderung auf Deutschland schauen.

Ich bin einer von Euch! Und ich bin genauso ein vernagelter Patriot wie die meisten von euch!
Die EU finde ich gut. Denn sie ist nützlich für Deutschland. Was die Idioten von der AfD einfach nicht erkennen.
Also wählt mich, damit ihr auch stolz auf den Reichtum und die Macht eures Vaterlandes sein könnt – auch wenn ihr wenig oder nichts davon habt!

Ein Deutschland, in dem der Staat wieder funktioniert. Ein Deutschland, in dem sich Leistung wieder lohnt. Ein Deutschland, das wieder zusammenhält.

Ein Deutschland, auf das wir wieder stolz sein können.

Kurz: ein Deutschland, das dem Rest der Welt zeigt, wo der Hammer hängt!

Ihr Friedrich Merz

Wenn’s nach mir geht: Euer zukünftiger Obermacker.

1¹ Alle Hervorhebungen durch Merz.

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